Schaufenster

Schaufenster

Bei jedem Schritt den er tat, jedes Mal, wenn er das linke Bein vorschob, drückten die vier Röhrchen gegen seinen Oberschenkel. Er hatte sie einzeln gekauft, jedem der beflissenen Apotheker hatte er dieselbe Geschichte erzählt, und immer hatte er dieselbe Marke bekommen, ohne Probleme. Vier Röhrchen, eine Flasche, das würde reichen, überlegte er, während er nahe den Schaufenstern, in denen er sich manchmal spiegelte, dem Hotel das er nicht kannte, entgegenging. Er hatte einen Vorsprung, man würde ihn so schnell nicht suchen. Und wenn man ihn fände, dann würden 52 Jahre beendet sein. 52 Jahre waren genug, er hatte sich entschieden, hatte sich verabschiedet als die Sonne schien und ihm doch so kalt war. Es würde nur noch kälter werden, und das Verglühen der Sonne wollte er nicht mehr ertragen.
Als er einem Schaufenster, dessen Scheibe bis auf den Boden reichte, zu nahe kam, hätte er sie fast umgelaufen. Sie stand ganz nahe an der Scheibe und drehte nur den Kopf, als sein Schatten in das Fenster fiel. Er sah sofort in ihre Augen, sah in ein erwachsenes Gesicht und sah ebenfalls sofort, dass sie noch ein Kind war. Ein Kind mit einem fast nicht vorhandenem Körper und großen Händen. Sie hatte viel zu große Hände, ernsthafte Hände, deren Fingerspitzen sie gegen das Glas presste. Sie sah ihn immer noch an, auch als seine Augen wieder ihren Blick suchten.
„Der kleine Schwarze gehört mir“, sagte sie und sah wieder in das Schaufenster, wo hinter der Scheibe zwei junge Hunde zu ihr aufblickten, „vor drei Tagen bin ich fünfzehn geworden, ich hatte ihn mir zum Geburtstag gewünscht.“
„Ach“, sagte er.
„Ich besuche ihn jeden Tag“, sagte sie.
„Ach ja“, sagte er.
Sie blickten sich wieder an, ein Schritt trennte sie von ihm, nichts trennte sie. Ihr Gesicht war so erwachsen wie zuvor, ihrem Körper war nun die Gestalt anzusehen, die einmal aus ihm wachsen würde. Ganz zart nur, wie mit dünnen Strichen gezeichnet, sah er diese Andeutung, die wie eine Aura auf ihr lag, und er sah gleichzeitig, ohne dass es ihn erstaunte, wie ihre Pupillen in den braunen Augen sich vergrößerten.
„Wollen Sie den anderen haben?“, fragte sie.
„Ja gerne“, sagte er.
„Sie müssen ihn dann aber auch täglich besuchen“, sagte sie.
„Natürlich“, sagte er.
Sie blickten sich wieder an, es war kein Lächeln in ihrem Gesicht, offen sah sie in seine Augen. Schutzlos stand er da, konnte weder wegsehen noch gehen. Wieder schwand die Distanz zwischen ihnen und sie erkannten sich. Sie schwieg, und als er es nicht mehr aushielt, machte er einen Schritt zur Seite und zwang sich an ihr vorbei, zwang sich, weiter zu gehen. Er drehte sich jedoch sofort wieder um, kaum, dass er an dem Schaufenster vorbei war.
„Bis morgen“, sagte sie, die ihren Kopf sofort wieder in seine Richtung gedreht hatte.
„Bis morgen“, sagte er und wäre fast wieder umgekehrt.
Er sah sie vor der Scheibe stehen, zwischen den Füßen die Schultasche haltend und mit den Händen nun über ihr Haar streichend um ihr Profil sichtbar zu machen. Er sah noch einmal in ihr Gesicht, sah jetzt, wie nahe sie der Stufe des Erwachsenseins war, sah wie die viel zu großen Hände sinnlos über die Scheibe wischten und spürte ihre Angst, denn sie war noch viel zu jung.
Er ging endlich weiter, ging seinen Weg, auf dem ihm nun fünf Minuten Vorsprung fehlten. Und er fühlte wieder bei jedem Schritt, wie sich der Stoff über seiner linken Hosentasche spannte.

Hans Dieter Peschken