Ich muss jetzt gehen

Ich muss jetzt gehen

„Ich muss jetzt gehen“, sagte sie.
„Ja“, sagte er.
Mit dem zu einem Streifen zusammengefalteten Stück Zeitung wischte er über den Tisch, als ob dort etwas wegzuwischen gewesen wäre. In dieser Zeitung hatte er am Morgen vier Kleinanzeigen rot umrandet. „Dreizimmerwohnung zu vermieten“, oder auch „Wohnung mit drei Zimmern vermietet…“ Mit dieser Zeitung war er dann hinüber in die Telefonzelle gelaufen. Er mochte nicht zu Hause diese Sätze sprechen, von denen sie doch wussten, dass er sie sprechen würde. Er sagte sie dann auch mehrmals in der Zelle.
Ja, sie seien zwei Personen, ja, ein Mann und eine Frau, nein, sie seien nicht verheiratet. Eine Wohnung war übriggeblieben, sie würden gleich beide kommen, sich die Wohnung anzusehen, hatte er der Vermieterin am Telefon gesagt.
Stumm hatte man ihm zugesehen, wie er sich sorgfältig anzog. Er hatte  spüren lassen, dass er gut gelaunt war, sich unabhängig fühlte. Es hatte keinen Streit gegeben, er hatte das bedauert, denn er fühlte sich so stark. Er war gegangen, ohne Gruß und ohne Begründung. Sie wussten ja, wohin er gehen wollte.
Kurz vor der Zeit war er am vereinbarten Platz, mitten in der Stadt hatten sie sich verabredet. Gestern war es gewesen, sie hatte den Vorschlag gemacht, sich erst einmal in der Stadt zu treffen, bevor sie zur Wohnungsbesichtigung gehen wollten.
Sie hatte die Schultertasche unter die Achsel geklemmt, der Riemen baumelte hinab. Sie lächelte, zurückhaltend und kühl, wie immer. Sie hakte ihn unter, zwang ihn, in eine Richtung zu gehen, die er nicht gehen wollte.
Er wollte ihr gerade sagen, dass die Wohnung, die sie zu besichtigen hätten, in anderer Richtung läge und hatte dabei in seine innere Jackentasche gegriffen, als sie ihm sagte, dass sie nicht mehr wolle. Er hatte sofort verstanden, er war gar nicht überrascht, wie er feststellte. Er schwieg.
Nein, sie wolle nicht mehr mit ihm zusammenziehen. Sie habe es sich noch mal genau überlegt. Die Umstände, und wer wüsste für wie lange, und mit ihren Eltern käme sie auch wieder besser klar. Er müsse das verstehen.
Sie hatten nun kein gemeinsames Ziel mehr, sie waren nur so die Straße entlanggegangen. Eine halbe Stunde Zeit hätte sie noch, hatte sie gesagt, man könne doch noch ein Glas zusammen trinken. Nun saßen sie hier, in der überdachten Ladenpassage an dem blank gescheuerten Tisch und ihr Cola-Glas war leer.
„Ich muss jetzt gehen“, sagte sie.
„Ja“, sagte er.
Sie hatten nicht viel gesprochen bisher, er hatte nicht versucht, sie umzustimmen. Er war nicht traurig, eher trotzig hatte er ihr gesagt, sie verzögere nur das Unvermeidliche.
Er wusste, dass er sich lächerlich machte, nicht erst seit jetzt. Man hatte es ihm vorher angedeutet. Sie sei dreizehn Jahre jünger, er solle das nicht vergessen, hatte man gesagt.
Er hatte gewusst, dass es nicht gut gehen würde, er wusste nun nicht mehr, ob er es befürchtet oder gehofft hatte. Sie hatte es auch gewusst, er hatte es die ganze Zeit über gespürt.
Sie sah, dass sie ihn nicht trösten musste, rief den Kellner und bezahlte die Getränke für beide. Er steckte seine Zeitung wieder in die Jackentasche.
„Ich muss jetzt gehen“, sagte sie.
„Ja“, sagte er.

Hans Dieter Peschken