Wartezimmer

Wartezimmer

Sie würde es nicht kriegen. Niemals könnte sie mit geschwollenem Leib und einem Puddinggesicht vor einen Spiegel treten. Abends die Beine hochlegen müssen, weil die Füße tagsüber eine Schuhnummer größer geworden waren. Nein, nie würde sie das ertragen wollen.

Wie schafften das nur die anderen Frauen in diesem Raum? Nicht alle waren sichtbar schwanger, so wie die dicke Blonde neben ihr. Vorhin hatte diese nicht mehr junge, ungepflegte Frau stolz gesagt, dass zehn Pfund an der Vorderseite schwerer wögen als 50 Pfund auf dem Rücken. Alle hatten zustimmend gelächelt, nur nicht das Kaugummi kauende Mädchen mit dem entrückten Schutzengelblick. So jung noch, die hatte doch bestimmt noch keine Kinder.

Ja, Kinder, alle hatten oder wollten Kinder. Nein, sie wollte es nicht haben.

Das vierte Kind schon erwartete die Griechin, die ihr gegenübersaß. Das jüngste, ein drei Jahre alter Junge, war dabei. Ein zartes Wesen. Sie hatte versucht, ihn zwischen ihre Knie zu nehmen, mit ihm zu reden, ihn Lachen zu machen. Es war nicht gegangen, sie fanden keinen Kontakt. Er hatte sich ihr verlegen entwunden, war auf einen Stuhl gestiegen und hatte versucht, die Regentropfen, die außen an der Fensterscheibe hinunterliefen – und dabei kleiner wurden, und indem sie in eine andere Tropfenstraße einmündeten ganz ihre Existenz aufgaben – mit seinem Finger in eine neue Bahn zu lenken. Das hatte ihn fasziniert, und sie hatte ihm dabei nachdenklich zugesehen, diesem kleinen, hässlichen Menschen. Drei Jahre hatte er seiner Mutter schon Arbeit gemacht. Viel Arbeit würde er noch machen, manche Jahre, und die Mutter schien es nicht zu schrecken.

Die beiden sorgfältig geschminkten, modern-lässig gekleideten Frauen, anscheinend Freundinnen, bestätigten sich schon wieder, wie früh man seiner Schwangerschaft sicher sein kann. Jedes Anzeichen kannte man, man hatte es sich gegenseitig berichtet und beredet, wann man zum Arzt gehen sollte.

Hoffentlich wird der Arzt nicht so unpersönlich sein wie der, bei dem sie vor einem Jahr war, als sie schon mal… Es war nichts gewesen. Vorübergehende Störung. Ein halbes Jahr aussetzen, wiederkommen. Sie war nicht wieder hingegangen, sie hatte auch nicht ausgesetzt. Er hätte es nicht verstanden. Er verstand überhaupt sehr wenig. Als er sie verlassen hatte – eigentlich hatte sie ihn rausgeschmissen – kaufte sie keine mehr. Sie glaubte, nie mehr welche zu brauchen. Vor drei Wochen war er wiedergekommen. Sie hatte sich gefreut. Zehn Tage war sie nun drüber.

Zu lange, um nichts zu werden. Oder doch nicht?

Noch einmal nur davonkommen.

Sicher, sie wollte auch einmal Mutter sein. Später. Später? Warum nicht jetzt? Ein Baby auf dem Schoß halten, ein eigenes Kind. Nie mehr alleine sein, einen kleinen Menschen versorgen müssen, dankbar dafür angelächelt werden. Wenn sie es jetzt bekäme wäre sie noch jung genug, später wieder zu arbeiten.

Das würde sie schaffen, auch ohne ihn.

Der kleine Junge quengelte, seine Mutter schimpfte nun. Er wäre immer so schnell müde, erklärte die Frau ihrer Nachbarin, und durch freundliches Nicken ermuntert, hatte sie innerhalb weniger Minuten alle Krankheiten ihrer Kinder aufgezählt. Durchwachte Nächte, mit Keuchhusten und Masern, Fieber und stundenlangem Geschrei.

Die junge Frau mit dem entrückten Blick sah nun gar nicht mehr so jung aus wie vorher. Vor einer Woche war ihr erstes Kind nach einem Monat auf der Intensivstation gestorben. Frühgeburt, man hatte es ihr nie in den Arm gegeben. Ganz ruhig wurde es von ihr erzählt. Man hatte ihr als Trost gesagt, so sei es besser für das Kind gewesen.

Als sich die Türe zum Sprechzimmer öffnete und der Arzt die obligate Frage – wer denn, bitte, die nächste sei – stellte, trat sie, ihn nicht anblickend, mit kalten Händen die Handtasche umklammernd, in das dunkle, rechteckige Loch, welches der Mann vorhin aufgerissen hatte und nun lächelnd hinter ihr schloss.

Das freundliche, aber zu leise gerufene Abschiedswort des kleinen Jungen konnte sie nicht mehr hören.

Hans Dieter Peschken