Sommerzeit

Sommerzeit

Sommerzeit – um eine Stunde werden die Uhrzeiger vorgestellt. Man muss erst einmal früher aufstehen, darf sich natürlich auch eine Stunde früher ins Bett legen. Kann aber auch den verlängerten Abend genießen, das Tageslicht ausnützen. „Day-light-saving“ nennen das die Engländer und verlängern sich so schon die Sommertage seit der vorletzten Jahrhundertwende. Das war aber kein Anlass für Deutsche, sich dieser Regelung anzuschließen, zumindest nicht 1919, nach einem eben verlorenen Krieg. In diesem Ersten Weltkrieg war die Sommerzeit auch im Deutschen Kaiserreich zwangsweise eingeführt worden. Im ersten Friedensjahr sollte kein geringeres Gremium als die Nationalversammlung, die zur Ausarbeitung der später so genannten Weimarer Verfassung in die Stadt der Dichter und Denker ausgewichen war, über eine Verlängerung abstimmen. Die Regierung hatte den Gesetzentwurf über die „Vorverlegung der Stunden in der Zeit vom 28. April bis 15. September 1919“ eingebracht. Der Geheime Admiralitätsrat Dr. Köbner vertrat ihn vor den 426 Abgeordneten aus acht Parteien, die am 19. Januar gewählt worden waren. Der heftigen Erregung in allen Volkskreisen bewusst, nannte er die Sommerzeit eine „Notstandsmaßnahme“, Sachverständige hätten sie empfohlen. Sparen würden die Elektrizitätswirtschaft und die Gasanstalten, sie hätten in den vergleichbaren Zeiträumen der Vorjahre sieben bis acht Prozent eingespart. Kohle sparen hieße Zahlungsmittel sparen, die dann für Lebensmittel frei wären. Die Bergbauarbeiter sollten durch die Verkürzung des Morgenschlummers nicht geschädigt werden – ein Geheimer Preußischer Oberbergrat versprach, im Falle der Sommerzeiteinführung den Schichtwechsel um eine Stunde hinauszuschieben. Diese Aussage erregte Heiterkeit im Saale, nicht jedoch die ernst gemeinten Argumente eines Vertreters der bayerischen Regierung. (Das Protokoll verzeichnet kurzes Geplänkel: „Welche bayerische Regierung?“ „Es gibt nur eine.“ „Falsche Propheten in München.“) Der Ministerialdirektor aus München wusste zu berichten, dass seine Landsleute die Sommerzeit ablehnen würden, ja sie sogar während der letzten drei Jahre sowieso nicht beachtet hätten. „Naturwidrig“ empfände man die Zeitverschiebung, das meinte auch der Zentrumsabgeordnete Diez, der auch die Kohleersparnis bestritt. Er warnte davor, an der Tag- und Nachteinteilung zu rühren, zu weit hätte man sich schon durch die Kultur von der Natur entfernt. Schlimmes berichtete der Vertreter der Deutschen Demokratischen Partei. Wegen seiner nicht umgestellten Uhr hatte er einst eine wichtige Sitzung verpasst, und für die arbeitende Bevölkerung sah er noch mehr Unheil voraus. Denn was würden die Arbeiter tun, wenn für sie der Tag früher zu Ende ginge? Der Lust am Tanz und Spiel würde gefrönt, Vergnügungssucht würde sich einstellen, dem puren Lebensgenuss würde gehuldigt. Und Überstunden würden die Landarbeiter schon gar nicht leisten wollen, „in dieser Zeit, wo die Arbeiter die mächtigen Herren der Erde sind, und wir Unternehmer nur die Trabanten.“ Auch der Vertreter der Sozialdemokraten, die mit 163 Abgeordneten in der Nationalversammlung saßen, war gegen die Sommerzeit. Nicht nur wegen der Unannehmlichkeiten, die sie bringe, und von denen man in letzter Zeit genug gehabt hätte. Er hatte auch errechnet, dass früheres Aufstehen vermehrtes Kaffeekochen fördere, die Stromersparnis dadurch wieder aufgezehrt würde. Außer der Regierung war nur noch die DNVP, sie hatte 42 Abgeordnete in der Versammlung, für die Neu-Zeit. Ein Arzt aus Oppeln trat ans Rednerpult und begrüßte die Sommerzeit aus hygienischen Gründen. Den kleinen Unbequemlichkeiten stünde die Mithilfe an der Gesundung des deutschen Volkskörpers gegenüber. Entgegen allen Einschränkungen bei Nahrung, Heizung und Seife seien Licht, Luft und Sonne als einziges nicht durch die Entente eingeengt. War auch der Aufwand an ideologischen Argumenten hoch, allzu lange diskutierte man an jenem 11. April 1919 nicht über die Sommerzeit. Das Sitzungspräsidium begrenzte die Redezeit, ließ der ersten Lesung gleich die zweite und die Abstimmung folgen. Abgelehnt wurde der Regierungsvorschlag, die Nationalversammlung war nicht dafür, der jungen Republik das Tageslicht zu verlängern.

Hans Dieter Peschken