Schrammen

Schrammen

Sie fühlte den Wind auf der Haut, wie ein Streicheln. Nur an den Oberarmen, an den roten Stellen, brannte es. Es waren noch 300 Meter zu gehen bis an den Bach. Dort würde sie sich hinsetzen, die nackten blutenden Füße und die Schrammen an den Oberschenkeln kühlen. Ihr Gang war unsicher, sie wankte. Ich habe keine Angst, sagte sie immer wieder laut. Er konnte ihr nicht folgen, sie hatte ihn liegen gesehen. Mit dem Kopf war er auf den Küchenboden aufgeschlagen, das Glas aus seiner Hand gefallen und dabei zersprungen. Sie war in die Scherben getreten. Nie mehr wollte sie zurück in die Wohnung. Bevor sie hastig, nur mit dem zerrissenen Pyjama am Körper, geflohen war, hatte sie noch die Polizei angerufen. Die würde schon erkennen, dass sie sich nur gewehrt hatte. Und dass sie glaubte, ihm sowieso nicht mehr helfen zu können. Das Wasser des Bachs war kalt, der Schmerz an den Füßen ließ nach. Sie war erleichtert, nach 15 Jahren voller Qual. Keine Trauer, keine Wehmut, kein Mitleid. Als sie den Stoß von hinten an ihrer Schulter spürte, drehte sie sich nicht um. „Kommst Du mit?“, fragte er. „Ja“, sagte sie.

Hans Dieter Peschken