Mireille

Mireille

Mireille hatten ihre Eltern sie genannt. Sie mochte den Namen, wusste auch sehr bald, warum sie ihn trug. Den Dichter, der die Verse über Mireille geschrieben hatte, verehrte sie aber nicht so, wie es die Eltern gerne gesehen hätten. Die Sonne habe ihn singen gemacht, soll der Dichter gesagt haben. Schon als kleines Kind konnte sie keine Sonne vertragen, ihr wurde schwindelig. Doch sie wollte so sein, wie man es von ihr erwartete. Ein Sonnenkind, ein Kind der Sonne. Sie versuchte immer wieder die Sonne zu lieben. Es war eine Qual, bis die Eltern aufgaben.
Nun wollte sie den letzten Versuch machen, sie musste Mireille und die Sonne besuchen. Sie hatte sich in den Süden aufgemacht, war gelaufen bis zur Dunkelheit und mit Zügen gefahren bis ein Kontrolleur auftrat. Autofahrer hatten angehalten, nicht gefragt und sie doch mitgenommen. In Dörfern liefen Kinder hinter ihr her, Frauen sahen sie böse an. Bis Maillane war sie zehn Tage unterwegs, in verfallenen Häusern an Dorfrändern hatte sie geschlafen. Es war kalt in den Nächten, sie hoffte auf wärmende Sonne. Einmal hatte sie von dem wenigen Geld, das sie besaß in einem Hotel übernachtet. Gegessen hatte sie wenig, von den Auslagen der Geschäfte nahm sie Bananen, von den Pumpen an den Straßenrändern hatte sie getrunken.
Des Dichters Haus hatte sie endlich gefunden und besucht, auch sein Grabmal.
Die Figur von Mireille in der Stadt der Heiligen Marien am Meer war das nächste Ziel gewesen. Dorthin war sie mit dem Bus gekommen, es war zu heiß und zu weit, um die Strecke zu laufen. Aber die Bronze-Statue einer pathetisch die Hand an den Kopf legenden Frau hatte keine Aura. Nur kurz blieb sie neben ihr stehen. Bevor sie in die Kirche ging, wollte sie sich ausruhen. Die Bänke auf der Strandpromenade standen in der Sonne, nichts war da, was Schatten hätte spenden können. Aber sie fühlte sich Mireille und der Sonne nahe, jetzt endlich. Wenn das die Eltern sehen könnten, dachte sie, bevor sie seitlich umfiel.
Sie lag auf der Steinbank, auf dem Rücken, als die beiden Polizisten zu ihr traten. Sie waren zufällig vorbeigekommen, niemand hatte sie gerufen, niemand hatte sich um die hagere, lumpig gekleidete Gestalt gekümmert.
Ein Polizist legte seine Hand auf ihren Kopf, er war heiß. Er nahm ihre Hand, sie war kalt. Sie bewegte ihre Lippen, und er beugte sich hinunter an das Ohr der alten Frau um das Flüstern zu verstehen. Als er sich wieder aufrichtete, legte er eine Hand auf seine Augen: „Elle s´appelle Mireio.“

Dieter Peschken