Krefeld 1943

Krefeld 1943

Inhaltsverzeichnis

Vorwort
I       Der Anfang
II      Battle of the Ruhr
III     Ein Sommertag
IV     Christbäume über der Stadt
V      Im Keller
VI    „Die Bevölkerung hatte Verluste“
VII    Bilanz der Zerstörung
VIII   Flucht und Lebensmittelmarken
IX     Die letzten Tage


Vorwort

Muss das sein? Immer wieder an den Krieg zu erinnern? 1945, vor gut 77 Jahren, war der Krieg, der 2. Weltkrieg, in Europa beendet. Endlich Frieden. Millionen Menschen aus allen beteiligten Nationen wurden zwischen 1939 und 1945 getötet oder vertrieben. Die Zahlen, die in Statistiken nachzulesen sind, sollen hier nicht im Mittelpunkt stehen. Thema dieser Arbeit ist die Zerstörung Krefelds, vor allem der Bombenangriff im Juni 1943.

Die Zivilbevölkerung in allen beteiligten Ländern hatte unter dem Krieg zu leiden, der sich nicht nur mehr auf Schlachtfeldern zwischen Soldaten abspielte. Das Leid und das Schicksal der Krefelder mag, weil uns Krefeld nahesteht, besonders stark berühren. Die Erinnerung daran kann gerade in diesen Zeiten sinnvoll sein. Trifft doch ein ähnliches Schicksal Hunderttausende   gegenwärtig, täglich, im Nahen Osten und wieder in Europa, in der Ukraine. Städte werden bombardiert, Menschen getötet, obdachlos und heimatlos gemacht.

Die Erinnerung an Krefelder Schicksale lässt uns mitfühlen, wie es Menschen gerade jetzt anderswo geht. Und Verständnis dafür empfinden, dass sie aus ihrer Heimat zu uns fliehen. Zu uns nach Westeuropa, in dem es seit über 70 Jahren Frieden gibt.

Daran erinnern, dass Frieden nicht selbstverständlich ist, das muss hin und wieder getan werden.
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I Der Anfang

Die Spuren sind immer noch unübersehbar. Der Krieg aus der Luft traf auch die Krefelder und Krefeld mit unbarmherziger Härte. In den Jahren von 1939 bis 1945 fielen den Bomben und anderen Kriegshandlungen 2048 Krefelder zum Opfer, fast die Hälfte (49,6 Prozent) der Wohnungen wurde zerstört. Den schlimmsten Luftangriff erlebten die Krefelder in der Nacht vom 21. auf den 22. Juni 1943, also vor bald 80 Jahren. Sich an dieses Ereignis zu erinnern, bleibt für die Zukunft wichtig. Es ist eine fortwährende Aufgabe der Überlebenden, zu gedenken. Der verstorbenen und betroffenen Krefelder und darüber hinaus auch aller Toten und Opfer des Zweiten Weltkrieges.

Denn nicht die deutsche Zivilbevölkerung war es alleine, die unter der Bombardierung zu leiden hatte. Der Angriff aus der Luft durch die deutsche Legion Condor auf die baskische Stadt Guernica 1937 markierte den Anfang dieser Kriegführung. Und gleich am 1. September 1939, dem Tag des Kriegsbeginns, als die Deutsche Wehrmacht Polen überfiel, flogen 29 deutsche Stukas einen Angriff auf die polnische Kleinstadt Wielun. 380 Bomben mit einer Sprengkraft von 46 000 Kilogramm fielen auf eine Stadt mit 16 000 Bewohnern. Sie töteten 1200 Menschen, 70 Prozent der Stadt waren anschließend zerstört. Warschau war das nächste Ziel der Luftwaffe: 20 000 Tote, darunter auch Opfer durch Artilleriebeschuss, wurden nach den Angriffen vom 24. bis 26. September 1939 gezählt. 900 Tote forderte der deutsche Angriff auf Rotterdam (14. Mai1940), und im englischen Coventry verloren 568 Zivilisten durch deutsche Bomben am 14. November 1940 ihr Leben. „The Blitz“ nannten die Engländer die Bombardierungen Londons zwischen August 1940 und März 1945 durch die Deutsche Luftwaffe. Rund 40 000 Opfer hatte die englische Hauptstadt zu beklagen. Ebenso viele Menschen starben durch den Angriff auf Stalingrad am 23. August 1942.

Ab 1942 flogen die Engländer permanent Angriffe auf deutsche Städte, dabei kamen eine halbe Million Zivilisten durch Bomben und Feuer um. In Hamburg (Juni/Juli 1943) und Dresden (13./14.Februar 1945) entfachten die Bomben Feuerstürme bis dahin unbekannten Ausmaßes.

Am 18. Februar ließ sich Joseph Goebbels im Berliner Sportpalast bestätigen, dass das deutsche Volk den totalen Krieg wollte. In der sogenannten „Battle of the Ruhr“ von März bis Juli 1943 war dann das Ruhrgebiet Ziel der englischen Bomberflotten. Und zum Ruhrgebiet wurde auch Krefeld gezählt.

Den ersten Luftalarm erlebten die Krefelder bereits am 4. September 1939. Keller und Bunker mussten aufgesucht werden. An diesem Tag begann die damals 42-Jährige Lehrerin Sibylle Bramers, sie wohnte am Neuer Weg, mit ihren Aufzeichnungen. Genauestens notierte sie die Zahl und die Dauer der Luftalarme. Am Ende des Krieges hatte sie eine Liste aufgestellt, die 25 eng beschriebene DIN-A4-Seiten umfasste.
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II Battle of the Ruhr

Die ersten Bomben, neun waren es, die im Zweiten Weltkrieg auf Krefeld fielen, sollten das Edelstahlwerk treffen. Nach diesem Abwurf am 22. Mai 1940, der ohne Schäden abging, verstärkten die Briten die Angriffe. Bereits am 2. Juni 1940 kamen die ersten Krefelder durch Bomben zu Tode: Ein Traarer Ehepaar starb in seinem Haus in Bruchhöfe. Bis zum Jahresende stieg die Zahl der Opfer auf 13. Den zweihundertsten Fliegeralarm verzeichnete Sibylle Bramers am 6. Juli 1941. 444 Sprengbomben und 5000 Brandbomben waren bis dahin auf Krefelder Gebiet gefallen. Den Tod von 43 Menschen betrauerte man am Ende des Jahres.

Doch die Angriffe waren noch ziemlich unsystematisch erfolgt. Mangelnde Ausbildung der Piloten und unzureichende Navigationsgeräte ließen die Angriffe der britischen Luftwaffe nicht so erfolgreich sein wie erhofft. 1940 bereits hatte Winston Churchill angekündigt, Deutschland zur Wüste machen zu wollen. Das Luftfahrtministerium nannte am 14. Februar 1942 als Hauptziel, man wolle die Moral der gegnerischen Zivilbevölkerung zerstören.

Überzeugter Befürworter des Konzepts des Flächenbombardements war Arthur Harris, der Nachfolger des am 22. Februar 1942 zurückgetretenen Luftmarschalls Richard Peirse. „Bomber Harris“ war 49 Jahre alt, selbst seine Mitarbeiter nannten ihn „Butcher“. Am Palmsonntag des Jahres 1942, in der Nacht zum 29. März, wird Lübeck das erste Opfer der neuen Strategie. 234 britische Bomber greifen an. Sie hinterlassen 320 Tote, 784 Verletzte und 1425 zerstörte Wohnhäuser, die Altstadt wurde durch Großbrände vernichtet. Eine Steigerung in eine noch schrecklichere Dimension war der „Tausend-Bomber-Angriff“ auf Köln am 30. Mai 1942. Mit 1500 Tonnen Bomben wurden die 1047 Maschinen beladen, zwei Drittel sind Brandbomben. 469 Menschen sterben, 45 000 werden obdachlos.

Die „Battle of the Ruhr“ begann am 5. März 1943, Essen war das erste Ziel. Krefeld, obwohl linksrheinisch, war für die Briten eine Stadt am Rande des Ruhrgebietes. In der Nacht vom 16. auf den 17. Mai zerstörten englische Bomber die Mauer der Möhnetalsprerre, die Täler von Möhne und Ruhr wurden von der Flutwelle zerstört, etwa 1200 Menschen ertranken.

Zum Angriff auf Krefeld starteten 705 Bomber auf den verschiedensten Flughäfen Englands. Dazu waren immense Planungen nötig und auch Geheimhaltung. Krefeld hatte den Decknamen „mahseer“, so nannten die Kolonial-Engländer in Indien einen Süßwasserfisch. In seinem Roman „Bomber“ beschreibt Len Deighton die Vorbereitungen der Besatzungen zum Angriff auf Krefeld, bei dem im Roman aber die fiktive Stadt „Altgarten“ (Grefrath) vernichtet wird. Die Einweisung: „Das Angriffsziel für heute Nacht ist Krefeld“, sagte der Group Captain, „Schwerindustrie, Textilfabriken, Leichtindustrie, Verkehrsknotenpunkt. Alles dran heute Nacht: Über 700 Maschinen des Bomberkommandos, Start 23.20 Uhr, Stunde null ist ein Uhr dreißig.“
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III Ein Sommertag

Der „Stunde null“ in der Nacht zum 22. Juni ging ein ruhiger Tag, ein Montag, für die Krefelder voraus. Soweit ein Sommertag in einem Krieg, der schon im vierten Jahr andauerte, ruhig sein konnte. Am Sonntag hatte es dreimal Luftalarm gegeben, und auch am Montagvormittag mussten die Menschen, durch Sirenen alarmiert, die Luftschutzkeller und Bunker aufsuchen. Das war Alltag, aber der Alltag bot auch Zerstreuungen. „Ich vertraue Dir meine Frau an“ mit Heinz Rühmann lief im Lichtspielhaus am Neumarkt, und das Stadttheater ließ „Die lustige Witwe“ über die Bühne des Hauses auf der Rheinstraße tanzen.

Um 21.52 Uhr begann die „Verdunklungszeit“, mit dieser Maßnahme sollten die Städte nachts in einer sicheren Dunkelheit verschwinden. Auch in einem Haus an der Steckendorfer Straße, gegenüber dem Kaiser Friedrich  Hain, wurde es dunkel. Die 15-Jährige Anneliese Schütten, Schülerin der Karin Göring-Schule an der Moerser Straße (Ricarda Huch-Gymnasium) lebte hier mit ihrer Mutter. Vater Felix Schütten befand sich als Kaufmann in Russland. Mit im Haus wohnte Hans Geipel, der als Diplom-Ingenieur im Edelstahlwerk arbeitete. Das Freibad in der Gerberstraße war für Anneliese Schütten in jenen Sommertagen beliebter Freizeitort, die abendliche Verdunklung war zur lästigen Gewohnheit geworden. Für die englischen Bomber waren düstere Städte auch kein Ortungsproblem mehr.

Nach der neuen Taktik der Royal Air Force mussten sich die Flugzeugführer und Navigatoren nicht mehr selbstständig den Weg zum Ziel suchen. Das hatte zu vielen Fehlortungen und Abschüssen durch die deutsche Flugabwehr und Nachtjäger geführt. Auch hatten Piloten ihre Bomben auf nichtgewünschte Ziele abgeladen.

Nun wurden die Flugverbände konzentriert, durchbrachen gemeinsam die deutsche Flugabwehr. Den weitesten Weg bis zum Treffpunkt im Luftraum – 51,48 Grad nördlicher Breite, 3,50 Grad östlicher Länge –  bei der niederländischen Insel Overflakkee haben die Wellington, die als erste kurz nach 23 Uhr in Yorkshire starten. Es folgen später von hier aus die Halifax, Wellington und die Lancaster starten später auf den südlicheren Basen in der Grafschaft Lincoln, bei Norfolk und Suffolk und in der Grafschaft Cambridge. Gegen 00.25 Uhr starten in Abständen von fünf Minuten auf der Air Base Wyton in Cambridgeshire die Obeo-Mosquitos des Pfadfinder-Geschwaders. Zehn unbewaffnete, in 10 000 Meter Höhe fliegende, Maschinen waren es, beladen mit roten Zielmarkierern. Eine Maschine sollte zur Täuschung der Flugabwehr ihre Markierungsbomben über Duisburg-Hamborn abwerfen. Der Zielpunkt in Krefeld könnte der Hauptbahnhof gewesen sein, aber die meisten aus nordöstlicher Richtung anfliegenden Maschinen klinkten die Zielmarkierer zu früh aus. Die meisten fielen in die nördlichen Stadtteile, östlich des Ostwalls und ins Hülser Bruch.
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IV Christbäume über der Stadt

Anders als die Bomber, die von der Küste aus geraden Kurs auf Krefeld nahmen, flogen die Mosquitos auf einem Kreisbogen, der sie über Krefeld führte. Ein Funksignal, das die in Südengland stationierte Sendestation „Katze“ absetzte, leitete sie. Ein Dauerton, der dem Piloten den richtigen Kurs anzeigte, gab dem Gerät den Namen: Oboe. Von einem anderen Sender in England, der „Maus“, wurde das Signal zur Auslösung und zum Abwurf der Zielmarkierer gegeben. Die Piloten hatten so weder Einfluss auf Zeit und Ort.

Um 01.08 Uhr löst die Krefelder Luftschutzleitung das Signal Fliegeralarm aus, es ist der 506. Fliegeralarm seit Kriegsbeginn in Krefeld. Sibylle Bramers notierte zwei Minuten später den Beginn des Alarms, sie setzt das Ende für 2.50 Uhr an. Die letzten Bomben fallen gegen 2.40 Uhr auf die Stadt, Entwarnung wird erst um 4.25 Uhr gegeben. Auf welche Weise ist unbekannt, der Stromausfall ließ auch die Sirenen ausfallen.

Für die 15-Jährige Anneliese Schütten war der Fliegeralarm längst zu einer unbequemen Begleiterscheinung im Kriegs-Alltag geworden. Sie war sich dann auch, als die Sirenen heulten, mit ihrer Mutter einig: „Wir bleiben liegen.“ Das Leben der beiden Frauen rettete dann wohl Hans Geipel, der sie nachdrücklich in den Keller zwang. Die niedergehenden „Christbäume“ – der erste, aus 60 Kerzen bestehende leuchtet um 01.27 Uhr in 1000 Meter Höhe über der Stadt – werfen grellroten Lichtschein durch die Fenster. Die Erfahrung aus dem Flakdienst sagte ihm, dass wohl tatsächlich Krefeld das Angriffsziel dieser Nacht sein wird. Viel Zeit blieb nicht mehr. Mit einem Wintermantel über dem Nachthemd, Reitstiefel an den Füßen konnte Anneliese Schütten noch weiße Socken, ein Fotoalbum und ein rotes Wachsköfferchen schnappen. Die Mutter nahm nichts mit in den Keller, keinen Schmuck, nicht mal den Ehering. Als die drei Menschen den Keller erreichten, erzitterte das Haus. Luftdruck ließ das Haus wanken und schleuderte ihnen die Kellertüre entgegen – eine Bombe war niedergegangen, aber nicht explodiert.

Inzwischen hatten die Pfadfinder-Lancaster-Maschinen grüne Leuchtkaskaden abgeworfen, die den nachfolgenden Bombern das Ziel markieren. Über eine Stunde lang fliegen die Bomber in sechs Gruppen ohne Unterbrechung ihre Angriffe. Das englische Bomber Command nannte im Einsatzbericht den Abwurf von 1.035 t Spreng- und 1.041,9 t Brandbomben. Eine zwei Monate später erfolgte Zählung der Stadt nennt 535 Minenbomben, 1960 Sprengbomben, 240 300 Stabbrandbomben und 40 720 Phosphorbomben. Noch heute werden Blindgänger gefunden, die Zahlen sind also mit Vorbehalt zu betrachten. „Nur“ 619 Flugzeuge bombardierten Krefeld, von den 705 eingesetzten Maschinen erreichten 661 das Ziel, 42 gingen verloren. Die Engländer gaben einen Verlust von über 300 Mann beim fliegenden Personal an.
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V Im Keller

In Tausenden von Krefelder Kellern spielten sich solche und schlimmere Szenen ab wie im Keller des Hauses mit der Stuckfassade an der Steckendorfer Straße. Die vorbereiteten Durchbrüche zu den Nachbarkellern waren aufgestemmt worden. Menschen aus zerstörten Häusern, denen ihr Keller zu unsicher schien, suchten Schutz. Bei Schütten im Keller drängten sich etwa 40 Personen, nur notdürftig bekleidet, weinend, verletzt und verzweifelt. Der Flügelbau des Hauses stand in Flammen. Das sah Anneliese Schütten, als sie noch einmal nach oben in die Wohnung hastete. Ihr gelang es noch, einen Arm voller Kleider aus ihrem Schrank zu reißen und wieder in den Keller zu kommen. Dort konnte sie aber klar machen, dass es sinnlos sei, die brennenden Hausteile löschen zu wollen. Wohl besprühte man den Kohlenberg im Keller mit Wasser.

Aber die Schutzsuchenden wussten noch nicht, welches Inferno sich derweil in der Stadt abspielte. Die Stadt brannte. Das Motorengeräusch der Bomber dröhnte, und die fallenden Bomben erzeugten ein glitschig pfeifendes Rauschen. Das endete mit einem dumpfen und dröhnenden Schlag, der den Boden zittern und die Fenster klirren ließ. Dazu krachte und grollte es, wenn die Häuser einbrachen und brennende Dachstühle auf die Straßen stürzten. Die Flammen der brennenden Häuser schlugen über den Straßenzügen zusammen, erzeugten Wirbelwinde und Sog. „Es rauschte, wie wenn gewaltige Mengen von starrer Seide gegeneinander gerieben würden“, beschrieb der Krefelder Dichter Otto Brües in seinem Roman „Der Silberkelch“ das nächtliche Inferno. Gleichzeitig glühte die Luft, eine Rauchwolke, deren Unterseite von den Flammen rot gefärbt wurde, bildete sich über der Stadt. Der Rauch biss in die Augen der Menschen, die aus Angst nicht mehr in den Kellern blieben.

Auch Anneliese Schütten und ihre Mutter verließen den Keller. Schutt und Brandbomben lagen herum. Eine verletzte alte Frau trug man in den gegenüberliegenden Kaiser Friedrich Hain. Dahin hatten sich die Menschen aus den brennenden Häusern der Nachbarschaft gerettet. Zwar brannte das Naturwissenschaftliche Museum mit den vielen ausgestopften Tieren auch, aber die Grünanlage mit dem kleinen Teich kam den Menschen wie eine rettende Insel inmitten des Flammenmeeres vor. Mit dem Wasser aus dem Teich konnte man sich die brennenden Augen kühlen. Hier erfrischte sich Anneliese Schütten an Johannisbeeren, eine Schüssel voll hatte die Mutter beim Verlassen des Kellers mitgenommen. Sogar Besteck hatten Mutter und Tochter. Denn das Mädchen hatte es vorsorglich im Keller deponiert, nachdem es einmal beim Hilfseinsatz in Düsseldorf erlebt hatte, wie Bombenopfer hilflos vor der Suppenspende standen, weil sie nicht einmal einen Löffel gerettet hatten.
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VI „Die Bevölkerung hatte Verluste“

Anneliese Schütten musste einsehen, dass es aus einem rauchenden Schutthaufen nichts mehr zu retten gab. Aber sie hatte wenigstens ihr Leben gerettet. 1036 Krefelder brachte der Luftangriff einen grässlichen Tod. 832 starben innerhalb der Luftschutzräume, 204 außerhalb. Von 1045 Menschen, die in Kellern und Wohnungen verschüttet wurden, konnte man 156 unverletzt und 39 verletzt bergen. In den Luftschutzräumen wurden 1487 Krefelder verletzt, außerhalb 7862. Die amtliche Statistik der Berufsfeuerwehr meldete, dass von den Verwundeten insgesamt 7211 durch Verbrennungen und an den Augen verletzt wurden. Als total zerstört wurden 6000 Gebäude registriert, 1500 galten als schwer beschädigt, 7500 hatten leichte bis mittelschwere Beschädigungen. Die Zahl der Obdachlosen nach dem Bombardement wird mit etwa 80 000 angegeben, über 30 000 Krefelder verließen die Stadt, um bei Verwandten und Bekannten auf dem Land und in vermeintlich ungefährdeteren Gegenden unterzukommen. Das Oberkommando der Wehrmacht gab einen Tag später eine Meldung heraus, die danach auch in einer Krefelder Zeitung abgedruckt wurde: „…griff ein starker Verband britischer Bomber in der vergangenen Nacht westdeutsches Gebiet an. Besonders in den Wohnvierteln der Stadt entstanden durch Spreng- und Brandbomben starke Schäden. Die Bevölkerung hatte Verluste.“

Anneliese Schütten und ihre Mutter wurden von einem Onkel aufgenommen, dessen Wohnung im Westbezirk unzerstört geblieben war. Auf dem Weg dorthin durch die zerstörte Stadt sahen sie Schlimmeres, als sie jemals zuvor in diesem Krieg gesehen hatten. Die Straßen waren stellenweise total verschwunden, andere waren nur noch zu ahnen. Fahrbahnen und Gehsteige lagen unter meterhohen Schuttmassen oder waren von riesigen Bombentrichtern aufgerissen. Aus den Trümmerhügeln raucht und qualmte es, geschwärzte Mauern mit leeren Fenstern ragten aus den Steinbergen, verbogene Stahlträger spannten sich ins Leere. Verbrannte und zerborstene Bäume standen neben umgeknickten Laternen, abgerissene Oberleitungskabel hatten sich zwischen Steinbrocken verheddert. Papier und Asche wurden vom Wind durch die Luft getrieben, Matratzen, Teppiche und zerfetzter Hausrat lagen zerstreut auf den Trümmern zwischen Steinen, Holzbalken und zersplitterten Möbeln. Brandgeruch reizte die Nasen, feiner Trümmerstaub ließ die Augen tränen. Gegen das Flammenmeer waren die Feuerwehren fast machtlos gewesen, obwohl sie durch Löschzüge aus den anderen Städten und durch das Ostpreußische Feuerschutzregiment verstärkt worden waren.

Die Zahl von 7 285 Bränden kann nur ungenau sein, war doch eine Fläche von über drei Quadratkilometern ein einziges Brandgebiet. Mit Schaufeln, Hacken, Forken und mit bloßen Händen gruben Kolonnen des SHD und Gruppen von Kriegsgefangenen in den Trümmern verbissen nach Überlebenden. Notdürftig wurden Verletzte versorgt, die Toten lagen noch vor den Häusern, bis sie von Angehörigen identifiziert waren. In verschmutzter und zerfetzter Kleidung irrten Menschen umher, fragten und suchten nach Familienangehörigen und Nachbarn. Andere saßen apathisch mit geröteten Augen und in Decken gehüllt vor den Resten ihrer Wohnung, den geretteten Koffer als letzte Habseligkeit neben sich.
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VII Bilanz der Zerstörung

Die Orientierung in der Innenstadt schien unmöglich. Große Blocks und markante Häuser fehlten ganz, gaben unbekannte Durchblicke in Hinterhöfe und andere Straßen frei. Kirchtürme hatten ihre Spitzen verloren, Friedenskirche und Josefkirche standen ohne Turmspitzen da. Von der Hauptpost auf dem Ostwall stand noch die Fassade, die 1865 errichtete De-Greiff-Säule lag zerborsten in der Anlage vor dem Dampfmühlenweg. Vom Rathaus, dem ehemaligen Schloss der von der Leyen, standen noch die Mauern. Der Portikus mit den sechs ionischen Säulen war erhalten geblieben, zerrissen waren die Adler über der Attika. Ausgebrannt war die Markthalle auf der Königstraße, ebenso das Floh´sche Haus an der Ecke Friedrichstraße/Wilhelmstraße. Zerstört waren die historischen Häuser der Mennoniten an Lutherischer Kirchstraße und Winkelstraße. An der Rheinstraße stand das Theater mit leeren Fensterhöhlen da – „Falstaff“ hätte am Abend gespielt werden sollen. Hauptbahnhof, Hansahaus und Zollamt waren unzerstört zu erkennen.

Anneliese Schütten war später in Wachtendonk und anschließend in Essen bei einer Tante untergekommen. Vorher war sie noch einmal in den Keller ihres Elternhauses geklettert. Durch das Kellerloch war sie über die noch warmen Kohlen an die Schränke mit der Wintergarderobe gelangt. Einiges konnte sie mitnehmen, später entdeckte sie, dass der Keller geplündert worden war. Das war in jenen Tagen häufig vorgekommen, obwohl drastische Strafen angedroht waren. Am 26. Juni wurde in der Tageszeitung von zwei vollstreckten Todesurteilen gegen Plünderer berichtet, die bei der Bergung von Hausgenossen Uhren und Damenschuhe gestohlen hatten.

Am Morgen nach dem Angriff ging auch der damals 75-Jährige Professor Karl Rembert durch die Innenstadt. Der „Heimat“-Begründer und damalige Linner Museumsleiter hatte den Bombenangriff auf der Uerdinger Straße 245 überlebt. Als „qualvollsten Spaziergang meines Lebens“ beschrieb der alte Mann seinen Gang durch das zerbombte Krefeld in seinem „Tagebuch der Schreckensjahre“. Mit dem vom Lavastrom zerstörten Pompeji verglich der Historiker die Ruinen auf seinem Weg. Er registrierte nicht nur die Zerstörungen der Wohnhäuser, sondern sah auch die zerstörten Fabriken, Ämter und öffentlichen Gebäude.

Die Stadtverwaltung listete die Schäden bald (Stand 9. August 1943) auf. Als total zerstört erwiesen sich 6102 Wohngebäude, 25 Verwaltungsgebäude, 19 Schulen, drei Krankenhäuser, neun Kirchen, zehn Kulturstätten, 24 landwirtschaftliche Gebäude und 37 Industriegebäude. Für 133 Industriebetriebe bedeutete die Zerstörung einen hundertprozentigen Produktionsausfall auf unbestimmte Zeit. 111 hatten Produktionsausfälle von bis zu drei Wochen.
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VIII Flucht und Lebensmittelmarken

In der Stadt hielten sich Gerüchte, mit dem Luftangriff hätten die Engländer die Produktion von Fallschirmseide zerstören wollen, die nicht nur in Fabriken hergestellt würde. In jedem Krefelder Haus sitze ein Weber an dieser kriegswichtigen Arbeit. Andere wollten wissen, die Engländer hätten auf die Vernichtung der Produktionsmöglichkeiten für Flugzeugkurbelwellen gezielt. Die kriegswirtschaftlichen Auswirkungen – auf zwei Monate schätzten britische Stellen den Produktionsausfall – waren wohl erwünscht, aber sicher nicht der alleinige Anlass des Angriffs gewesen, bei dem 40 Prozent der bebauten Fläche in Krefeld vernichtet wurden.

Das Ziel, die „Kriegsmoral“ der Bewohner zu zerstören, wurde nicht erreicht. Trotzdem waren die Krefelder zermürbt, sie verfluchten den Krieg nicht erst seit jener Nacht. Flucht aus der Stadt war eine Reaktion, die der Stadtverwaltung Probleme bereitete. Die Schwierigkeiten wurden dem Oberbürgermeister im September 1943 gemeldet: „Einige Kopflose, denen die Nerven durchgegangen waren, sind ohne Entschuldigung der Arbeit ferngeblieben.“ Andere „Kriegsaushilfsangestellte“ hatten eine Abreiseerlaubnis erhalten. 32 städtische Bedienstete waren beim dem Großangriff zu Tode gekommen, 15 wurden als verletzt und krank geführt. Einige waren in Notquartiere außerhalb der Stadt gezogen und kamen nur unter Schwierigkeiten zu ihrer Dienststelle in der Stadt. Die Diensttuenden klagten über Papiermangel, die MOB-Abteilung war vernichtet, wichtige Geheimpapiere verbrannt.

Zerstörte Oberleitungen, aufgerissene oder zerstörte Straßen behinderten lange Zeit erheblich den innerstädtischen Straßenbahnverkehr. Die Krefelder Busse waren ein Ersatz, Fahrzeuge aus Bamberg, Hanau, Braunschweig, Halberstadt und Kassel wurden als Verstärkung eingesetzt. Im unzerstörten Kaiser Wilhelm Museum waren außer Partei und NSV eine Reihe städtischer Ämter untergebracht. Stadtkasse, Steuerkasse, Steueramt, Stadtbücherei, Bildstelle, Verwaltung des Theaters – das Theater war nach Hirschberg verlegt – und einige andere drängten sich in den Räumen am Karlsplatz. Auch das Trauzimmer des Standesamtes befand sich zeitweilig hier, die Kunstschätze waren ausgelagert.

Zahlreiche Verpflegungsstellen waren in der Stadt eingerichtet. Hunderte von Frauen schöpften die Gemeinschaftsverpflegung aus Großküchen in jedes Gefäß, das die Menschen, die alles Hab und Gut verloren hatten, ihnen hinhielten. Zwei Wochen nach dem Angriff bekam man Mittagskost nur noch gegen Abgabe der entsprechenden Lebensmittelmarken. 50 Gramm Fleisch und 30 Gramm Fett in Markenwährung konnten gegen Erbsen, Reis, Nudeln mit Fleisch und Fett eingetauscht werden.
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IX Die letzten Tage

Die Nacht zum 22. Juni 1943 brachte den Krefeldern sicher die schrecklichsten Stunden des an Schrecken wahrlich nicht armen Krieges. Nach dem schweren Angriff sollte der Krieg fast noch zwei Jahre dauern, die Krefelder blieben nicht verschont. Viele der ausgebombten Krefelder waren weggezogen, andere hatten sich notdürftig in Ruinen, Bunkern und Kellern oder bei Verwandten und Nachbarn eingerichtet.

Anneliese Schütten musste noch mehrmals um ihr Leben fürchten. Sie hat in Aachen den schweren Angriff mitgemacht und in Essen in einem unterirdischen Bunker einen Bombenangriff überlebt. Später zog sie in eine Wohnung am Vluyner Platz, nachdem sie zuvor einige Monate der Ruhe in Linz am Rhein erlebt hatte. Am 11. und 29. Januar wurde Krefeld nochmals aus der Luft angegriffen. Der Keller im „Krefelder Hof“ bot Anneliese Schütten bei einem dieser Angriffe Rettung. In den letzten Kriegstagen erfolgten nicht nur geschlossene Angriffe, tieffliegende Jagdbomber schossen auch auf einzelne Personen und selbst auf das Vieh auf der Weide.

Als dienstverpflichtete Schaffnerin erlebte Anneliese Schütten einen solchen Luftüberfall auf der Fahrt nach Moers. Sie konnte sich vor den Fliegern in Sicherheit bringen, acht junge Soldaten, mit denen der Teenager zuvor in der Straßenbahn noch gescherzt hatte, schafften es nicht mehr. Das Mädchen fand sie hinterher tot im Straßengraben. Am 2. März 1945 marschierten die Amerikaner in Krefeld ein. Zehn Menschen starben an diesem Tag durch Beschuss aus einem Tiefflieger.

Insgesamt ließen 2177 Menschen in Krefeld ihr Leben durch den Krieg aus der Luft und bei den Kämpfen im Stadtgebiet im März 1945. Vergessen werden darf auch nicht, dass der Luftangriff am 21./22.Juni über 300 Menschen des fliegenden Personals der Engländer das Leben kostete. Auch daran darf gedacht werden, wenn nun, nach über 77 Jahren, an die Kriegsereignisse und das Leid erinnert wird. Daran haben auch jetzt noch viele Krefelder schwer zu tragen. Bis auf den heutigen Tag hat der Krieg aus der Luft unsere Stadt folgenreich gezeichnet.

Für Sibylle Bramers war dieser Krieg der zweite, den sie erlebte. Sie hat die Daten der Luftangriffe in einer Chronologie des Schreckens auf 25 Seiten notiert, aber kaum kommentiert. Am 22. Juni 1943 schrieb sie neben die Zeilen: „Furchtbar, Krefeld bombardiert.“ Neben dem Eintrag vom 21. Februar 1945 steht zu lesen. „Das letzte Mal im Keller.“
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Hans Dieter Peschken