Heimat

Heimat

Dieser Text ist eine modifizierte Fassung des Beitrages, der 2010 in der „Heimat“ veröffentlicht wurde. Er war als Nachtrag auf die 46 Heimat-Hymnen prominenter Krefelder gedacht, mit denen ein Jahr zuvor das Heft 80 der „Heimat“ als Festschrift für Dr. Reinhard Feinendegen erschien.

So geht es der Heimat, wenn Heimatfreunde sich ihrer annehmen. Wenn sie zu wissen oder zu fühlen glauben, was Heimat bedeutet. Dann sind sie begeistert dabei und der Leser staunt ob der Fülle der Beiträge und der Gedanken, wie sie im letzten Heft der Heimat zu lesen waren. Und der Leser denkt an Paul Watzlawick und dessen Gedanken. Nämlich daran, dass zu viel des Guten schlecht werden kann. Nun sei Schlechtes nicht den Autoren und auch nicht den Herausgebern der Heimat unterstellt. Aber, in solcher Fülle reizen die Heimat-Elogen doch zum Widerspruch, zum Mindesten zu einer kritischen Reflexion.

Zur Erinnerung, so war der Tenor: Die Heimat wird als Ort gesehen oder soziales Gefüge definiert, in das man durch Geburt oder Zuzug hineingeraten ist. Zufall bestimmte also, was als Heimat gemeint wird. Kein Zufall scheint es, wie man damit umgeht. Man muss sie offenbar lieben, die Heimat, das ist Konsens. Egal, wie sie aussieht, wie die Lebens- und Wohnverhältnisse dort sind. Heimatlos zu sein ist für Menschen unvorstellbar, offenbar ein schrecklicher Zustand. Umso schrecklicher, je mehr sie sich ihrer vermeintlichen Heimat räumlich oder mental entfernt haben. Sie gar ohne eigene Schuld „verloren“ haben. Heimat wird zu einem Sehnsuchtsort, an dem sie in Gedanken und Träumen verweilen, den sie nicht selten in ihrer Erinnerung erst erschaffen.

Aber gibt es sie überhaupt, die Heimat? Ein persönlicher, lokalisierbarer, begrenzter Ort? Wird der Mensch etwa mit Wurzeln geboren, oder nicht doch mit Beinen und Füßen, mit denen er sich fortbewegen kann? Primaten bewohnen ein Revier, das sie verteidigen, aber auch wechseln können. Wie war es mit unseren Vorfahren? Sie streiften zuerst umher, Nahrungssuche und Nahrungsangebot bestimmten ihren Lebensraum. Den sie ausdehnten und wechselten, wenn es zum Überleben nötig erschien. So breiteten sich unsere Vorfahren auf der ganzen Erde aus, lange Zeit immer unterwegs. Ja, unterwegs zu sein war der selbstverständliche Zustand, der das Lebensgefühl bestimmte. Mit der Sesshaftigkeit, mit der Schaffung einer dauerhaften Wohnstatt, einer Heimat, kam nicht das Glück, sondern das große Übel über die Menschen. Heimat wurde „Besitz“, im Wortsinn. Wurde ein Stück Land, auf dem man „saß“, wurde zu Eigentum. Eigentum als Heimat schloss zugleich andere davon aus, am gleichen Platz eine Heimat zu finden. Erschlug Kain, der sesshafte Ackerbauer, nicht seinen Bruder Abel, weil er seinen Besitz gegen den umherziehenden Hirten verteidigen wollte? Und entsprangen und entspringen nicht alle Kriege in der Welt dem Versuch, die alte angestammte Heimat zu verteidigen, die anderen zu vertreiben und heimatlos zu machen? Und geht es nicht immer darum, die alte Heimat um eine neue Heimat zu vergrößern?

Aber auch die kleineren Übel sind mit Heimat verbunden. Der ideologische Abkömmling der hehren Heimat ist der Eigenheim-Wahn. Er zerstört unsere Städte, lässt sie ausfransen. Menschen wird eingeredet, ein eigenes, eingezäuntes Haus draußen vor der Stadt zu besitzen, gebe ihnen Sicherheit. Dort sei ihr Heim, das sei ihre Heimat. Um von dort weg und wieder zurück zu kommen, müssen sie fahren, produzieren Autoverkehr und verpesten die Luft. Oder sie bleiben zu Hause, in ihrem Eigenheim, wo es so gemütlich sein soll, und sie doch nur einsam sind. Im Gegenzug veröden die Städte, ihre Infrastruktur wird zerstört und ihre Bewohner werden ebenfalls zum Fahren gezwungen, wenn sie arbeiten oder einkaufen wollen.

Sind wir Menschen denn auf der Erde, um hier heimisch zu sein? Martin Heidegger sagt: „Der Mensch ist gegen seinen Willen in die Welt geworfen und sein Sein ist ein Sein zum Tode.“ Ich bin in Krefeld geboren, zufällig, und habe immer im Radius von 500 Metern um meine Volksschule gewohnt. Ich bin ein Einheimischer, ohne Zweifel. In der Geschichte der Stadt kenne ich mich etwas aus, kann mich auch in der hier üblichen Sprache ausdrücken. Ich lebe auch nicht ungern hier, wäre das so, wäre ich längst weggezogen. Bin ich deswegen hier heimisch? Als ich geboren wurde, und das war im Krieg, sagte man, ich sei „zur Welt gekommen.“ Zur Welt, nicht nach Krefeld. Überall auf der Welt kommen die Kinder „auf die Welt.“ Ich bin beileibe nicht das, was man einen Weltbürger nennt. Längst noch nicht war ich auf allen Kontinenten. Aber ich bin sicher, dass ich ein Mensch bin, der auf der Erde lebt, ein Einheimischer. Der vorübergehend hier lebt, denn mein Aufenthalt – wie der aller Menschen – hier ist zeitlich begrenzt. „Was ist Euer Leben? Ein Rauch seid ihr, der eine kleine Zeit bleibt und dann verschwindet“, schreibt Jakobus. Ich bin Gast auf der Erde, bin vorübergehend ein Erdenbewohner. Und bin ein Erbe aller meiner Vorgänger auf der Erde, gleich wo sie lebten. Und deshalb ist es auch so, dass ich mich an Orten spontan wohlfühle, an denen ich vorher nie war. An ganz fremden Orten kann sich ein Gefühl einstellen, das zwischen guter Erinnerung und Geborgensein schwankt. Vielleicht ist es dieses Gefühl, das manche als „Heimatgefühl“ bezeichnen. Mich bindet das Gefühl nicht an einen Ort, es ist nicht an Krefeld noch sonst einen Ort verankert. Bestimmt erbt der Mensch von seinen Vorfahren mehr als Körperbau, Haut- oder Augenfarbe. Er erbt auch die Erlebnisse seiner Ahnen, vage vielleicht, und nicht zu konkretisieren. Aber eben dieses Nachfühlen, diese Erinnerung an selber nie erlebte Zeiten und nie gesehene Orte steckt in uns allen. Wenn wir wollen, können wir es spüren, und wir können es nur wollen, wenn wir uns darüber klar werden: Heimat als einen geografisch bestimmbaren Ort unserer Biografie gibt es nicht. Heimat ist eine Illusion, Heimat wird oft ideologisch verwendet um Menschen zu manipulieren. Ernst Bloch nennt seinen Begriff „Ultimum“ als „etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“ Heimat ist eine Utopie, ist der vergebliche Versuch, etwas Dauerhaftes, ein statisches Paradies im Diesseits zu schaffen. Wir sind Reisende, Durchreisende auf dieser Erde. Unsere Reise, jedes Menschen Reise, hat mit dem Beginn der Menschheit begonnen. Unser mentales Reisegepäck erhielten wir von den Vorfahren und wir werden es weiterreichen. Und unsere Reise wird mit unserem Tod nicht enden. Wir werden weiterleben in allen irdisch Reisenden, eine Heimat jedoch wird nie jemand finden. „Heimat haben“, an einen Ort gebunden bleiben, als Synonym für „glücklich sein“ zu brauchen, wird genau dazu führen, dass glücklich sein verhindert wird.

Alles, was hier gegen die Heimat vorgebracht wird, ist ein Versuch, die Welt besser zu machen, wie es Harald Martenstein vorschlägt. Oder wenigstens sie zu bereichern. „Suchen Sie eine gut abgehangene Allerweltsthese, eine Meinung, der alle, die Sie kennen, beipflichten. (….) Und nun vertreten Sie mit großem Nachdruck das genaue Gegenteil. (…) Sie bereichern die geistige Landschaft. (…) Sehr bald wird ein Einfaltspinsel daherkommen und Ihnen Zynismus vorwerfen. Dann zitieren Sie am besten den Germanisten und Schillerpreisträger Peter-André Alt, der sagt: ,Das Moralische zielt darauf ab, bewundert zu werden, und ist deshalb eine Form des Egoismus., Wirklich gut ist, philosophisch betrachtet, vermutlich nur das Böse.“ Soweit Harald Martenstein, und mit ihm bin ich der Meinung, dass gerade eine befremdliche, einigen gar böse erscheinende Meinung die Welt, und sei es auch nur deren kleiner Krefelder Teil, bereichern kann. Den kleinen Teil der Welt, in dem sich nicht nur Krefelder aufhalten, wie schon Fritz Huhnen feststellte, sondern auch Gute und Böse.

Hans Dieter Peschken