Entlassen

Entlassen

Entlassen. Sie hatte es erwartet. „Frau Hansen, wir brauchen…“ Zu viele Kolleginnen standen in der Buchhandlung herum, so unbewegt, wie die Bücher auf den Tischen lagen. Kein Bedauern von den anderen, keine Trauer bei ihr. Sofort freigestellt wäre sie, und sofort wusste sie, was zu tun war. Zum Reitstall fuhr sie eine halbe Stunde, es sollte ihre letzte Fahrt dorthin sein. In dieser Stadt wollte sie nicht länger leben, ihre Stute konnte sie nicht mitnehmen. Sie räumte das Spind aus, legte alles in die große Blechkiste und schleppte sie mit dem Sattel zum Auto. „Machs gut Rosita“, sagte sie dann zu der 13 Jahre alten Stute und kraulte ihr durchs Boxengitter die Stirn. Nur kurz sprach sie mit einer Bereiterin und gab ihr einige Scheine.
Als am nächsten Mittag nach der Schule Silvia in den Stall kam um nach ihrem Putzpferd zu sehen, war in der Box schon neues Stroh aufgeschüttet. „Wo ist Rosita?“ Diese Frage schreiend wiederholend lief Silvia, die genauso alt war wie Rosita, durch die Stallgasse und vor das Gebäude. Sie bekam keine Antwort, nur ernste Blicke.
Verwirrt machte sie sich auf den Heimweg, setzte sich an den Küchentisch und weinte. Ihre Mutter fragte nicht. „Du wolltest noch für Frau Karsten einkaufen gehen“, sagte sie. Das tat Silvia sonst täglich, für die wenigen Münzen, die sie von der alten Frau dafür bekam, kaufte sie Möhren für Rosita.
Auch am nächsten Tag ging Silvia nicht einkaufen. Abends kam ein Anruf aus dem Krankenhaus. Frau Karsten war auf der Straße gestürzt, als sie in der Buchhandlung ein Buch abholen wollte. Silvia erschrak und besuchte Frau Karsten nach der Schule. Die alte Frau lag ruhig in ihrem Bett, hatte die Augen geschlossen. Als Silvia ihre Hand nahm und drückte, spürte sie einen schwachen Gegendruck. „Ich komme morgen wieder und gehe auch wieder einkaufen“, sagte Silvia, und glaubte, dass sie verstanden wurde.
Schon vor die Schule radelte sie am nächsten Morgen zum Krankenhaus. Das Bett, in dem am Vortag noch Frau Karsten gelegen hatte, war leer und frisch bezogen. Als sie das Zimmer verließ, kam ihr eine Schwester entgegen, die auf den Boden schauend vorbeigehen wollte. „Wo ist Frau Karsten“, sagte Silvia, „wurde sie entlassen?“

Dieter Peschken