Die Predigt

Die Predigt

Es war kurz vor 11 und dieser Sonntagmorgen fing an zu verwelken. Der Pastor hatte von Nächstenliebe gepredigt. Das fiel ihm leicht. Er hatte keine Nächste am Frühstückstisch. So eine, wie er sie am Morgen erlebt hatte. Sie war seine Nächste, obwohl er schon an die Übernächste dachte. Eine, die nicht das Gelbe vom Ei den Becher hinunterlaufen ließ. Jeden Sonntagmorgen musste er das Geklecker ansehen. Und immer die hilflosen Versuche, die Ungeschicklichkeit zu verbergen. Aber keine Einsicht. Jede gelbe Spur, bis sie endlich auf dem Tischtuch auslief, hinterließ eine Spur in seiner Seele. Zum breiten Pfad war die Spur geworden. Der Pastor würde nicht verstehen, dass Nächstenliebe begrenzt war. Doch heute musste es ein Ende haben. Eine Frau würde ins Haus kommen. Sie würde pünktlich sein. Er würde sie nicht fragen, was sie zusammen tun wollten. Zusammen weich gekochte Eier essen, nein, das ging nicht. Er würde ihrer Stimme zuhören, egal was sie sagen wollte. Und anschauen wollte er sie. Die Frisur, die Haut, die Augen – immer nur anschauen. Sie würde wieder perfekt gekleidet sein, ihre Gegenwart konnte er aushalten.
Auch dem Pastor sollte sie als Nächste gefallen. Gleich würde sie erscheinen. Er musste nur noch den Fernseher anschalten.

Hans Dieter Peschken