Der Taschenspiegel

Der Taschenspiegel

Als er beschloss sein Leben zu ändern, warf seine Schuhspitze einen langen Schatten neben den Kaffeehaustisch.
„Darf ich Ihnen noch was bringen?“
Die Kellnerin war nicht aufdringlich, schließlich stand schon seit einer halben Stunde eine leere Tasse vor ihm.
„Nein, danke“, sagte er, griff zwei Eurostücke aus der linken Tasche des Sakkos und legt sie auf den Tisch.
Wortlos stand er auf, und wartete einen Moment, bis er auch im linken Bein, das er übergeschlagen hatte, das Kribbeln aufhören spürte. Die Kellnerin beobachtete ihn dabei, schaute auf den Tisch und sagte nichts. Erst als er gegangen war, nahm sie das Geld und die Tasse. Man mochte ihn nicht, das wusste er. Niemals ließ er Trinkgeld zurück. Und sprach mit niemandem, nur von den wenigen Worten seiner Bestellung und seinem Dankeschön war seine Stimme bekannt. Dass er einer jungen Kellnerin so unheimlich war, dass sie immer eine Kollegin bat, ihn zu bedienen, das wusste er nicht. Es wäre ihm aber auch egal gewesen, hätte er es gemerkt. Er wollte nicht gefallen. Die ersten Schritte tat er vorsichtig, er spürte den Schmerz in der linken Seite, der seit drei Wochen immer da war. Er ignorierte ihn, aber nun würde er sein Leben ändern. Mit der rechten Hand fasste er in die linke Innentasche seines Sakkos und nahm das Mäppchen heraus. Flach war es, und in der Innenseite, wenn man es aufklappte, steckte auf der einen Seite ein Kamm. Auf der anderen Seite war ein Spiegel aufgeklebt. Der Kamm war sauber, er bürstete ihn einmal in jeder Woche mit warmem Wasser ab. Der Spiegel hatte keine blinden Stellen, an einer Ecke löste er sich von dem Kunstleder. Außen war das Mäppchen braun, matt und unauffällig. Seit genau 48 Jahren trug er es immer bei sich. Wenn er sein Sakko wechselte, achtete er darauf, es von der Innentasche des einen Sakkos in die Innentasche des anderen zu tun. Jetzt nahm er es von der rechten in die linke Hand. Mit dem Daumen klappte er die Seiten auseinander. Nur ganz kurz hielt er es so geöffnet und schloss es dann wieder. Ließ die Hand mit dem Mäppchen sinken und ging zwei Schritte nach links auf die Seite der Straße. Ohne stehen zu bleiben warf er das Mäppchen in einen Abfalleimer. Es verschwand darin, ohne dass ein Geräusch zu hören war. Langsam wandte er, als er schon einige Schritte gegangen war, den Kopf nach links. Und blickte auf die Schaufensterscheibe. Seine Figur, die sich im Glas spiegelte, interessierte ihn nicht. Er sah seinen Kopf an. Der kahle Schädel war von der Sonne gebräunt und im Alter fleckig geworden. Er strich sich langsam mit der linken Hand darüber, einmal von hinten nach vorne und einmal von links nach rechts. So, wie seine Mutter es jeden Morgen mit den dichten, widerspenstigen Haaren getan hatte, damals vor 58 Jahren, als sie ihm anschließend die Mütze aufsetzte und ihn zu früh auf den Schulweg schickte.

Hans Dieter Peschken