Adoption

Adoption

Sie hat eine Mutter. Ihre Mama sagte es Eva, vor der Einschulung. Dass sie als Baby adoptiert wurde, weil die Mutter drei Tage nach der anonymen Entbindung aus der Klinik verschwunden war. Erst 17 soll sie gewesen sein, die Mutter. Sie blieb unauffindbar und hatte nie nach ihrer Tochter gesucht.
20 Jahre lang, und Eva hatte sie nicht vermisst. Bis dann vor einigen Wochen der Brief des Rechtsanwalts kam. Seine Mandantin sei die Mutter von Eva, daran gäbe es keine Zweifel. Sie wolle ihre Tochter kennenlernen. Ob man nicht erst mal Fotos austauschen wolle? Nein, seine Klientin wünsche den persönlichen Kontakt.
Eva war ratlos, sie hatte die Frau, die offenbar ihre Mutter war, vergessen. Mama stimmte einer Begegnung zu, es wäre doch für beide Seiten ein Erlebnis. Und sie bliebe immer die Mama, egal was passieren würde.
Ein Album mit Fotos aus der Kindheit solle sie mitnehmen, die Mutter würde sicher auch das Kind Eva sehen wollen. Schließlich war Eva neugierig geworden, sie wollte prüfen, ob die Mutter diese braunen Augen und schwarzen Haare hatte wie sie. Eva fuhr in die Stadt am Rhein, alleine, und fand das Luxushotel.
In der Hotellobby solle sie warten, das wünsche die Mutter, das hatte der Rechtsanwalt gefordert. Eva war zeitig in der Halle, sie fühlte sich nicht wohl in dem großen Sessel, den der Portier ihr angeboten hatte.
Der Rechtsanwalt war pünktlich. Er habe sie sofort erkannt, sagte er.
Auf Wunsch der Mutter müsse er deren Verschwinden erklären. Sie sei damals in Panik geflüchtet, ohne Papiere hatte man sie zwei Tage danach schwer verletzt an einer Autobahnraststätte gefunden. Es hatte Jahre gedauert, bis sie wieder wusste wer sie war. Und noch einmal Jahre waren vergangen, bis sie den Wunsch verspürte, ihre Tochter zu treffen.
Nun wolle sie ihre Tochter bitten, ihr zu verzeihen. Jetzt wohne sie hier im Hotel.
Eva sah sich um, keine Frau war zu sehen. Als sich die Aufzugtür öffnete, wurde ein Rollstuhl hinausgeschoben. Die Frau, die darin saß, trug eine dunkle Brille und ein Kopftuch.
„Sie ist blind“, sagte der Rechtsanwalt und winkte dem Pfleger, der den Rollstuhl schiebend sich langsam näherte. Eva stand auf, nahm ihre Fotos und verließ den Raum.
Einige Wochen später kam wieder ein Brief vom Rechtsanwalt. Die Mutter sei sehr traurig über die Situation gewesen. Eva kennenzulernen war ihr letzter Wunsch. Vor zwei Wochen sei sie, wie es vorauszusehen war, verstorben. Kurz zuvor habe sie noch mal ihr Testament geändert.
Erbe eines Millionenvermögens, einer Hotelanlage in Istanbul, sei das Krankenhaus, in dem Eva geboren wurde.

Dieter Peschken