Kurt Tucholsky

Kurt Tucholsky

Mein Leben begann mit Kurt Tucholsky. Ich war 20 Jahre alt, und er seit 28 Jahren tot. Mit „Schloss Gripsholm“, dieser leichten Sommergeschichte, stellte er sich bei mir vor. Und bekam fortan einen Platz in meinem Bücherregal und  in meinem Herzen, richtete sich in meinem Kopf ein und wurde zum wegweisenden Gefährten. Bald hatte ich alles, was er als Kaspar Hauser, Theobald Tiger, Ignaz Wrobel und Peter Panter geschrieben hatte. Ich fand es in gesammelten Werken, in Einzelausgaben und in der „Weltbühne“, die für mich ebenfalls zur Entdeckung wurde. Was er geschrieben hatte, lehrte mich die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts kennen. Seine politische Haltung zum 1. Weltkrieg, sein „Krieg dem Kriege“ und seine Warnung vor dem 3. Reich erschienen mir so klarsichtig wie einleuchtend. Durch Tucholsky lernte ich verstehen, was hätte werden können aus dieser Republik, wenn es nur genügend aufrechte Demokraten und Pazifisten gegeben hätte. Solche, die sich zu ihrer Meinung bekannt hätten. Der 1890 in Berlin geborene Tucholsky, Kind aus jüdischer Familie, war ein Mann mit gebrochenem Lebenslauf. Verlor früh den Vater, gelangte nicht auf dem einfachsten Weg zur Hochschulreife und wurde erst im zweiten Anlauf promoviert. Der Jurist arbeitete kurzzeitig in einer Bank, seine Kenntnisse aus dem inneren Kreis der Geld-Macher und Geld-Vermehrer führten zu heute noch gültigen Analysen des Geld-Gewerbes und dessen Betreiber. Seine spitzen, sprachlich geschliffenen Formulierungen waren von einer Leichtigkeit, wie ich sie vordem nicht kennen gelernt hatte. Sie boten ein literarisches Vergnügen, sie waren leicht, aber nicht seicht. Verständlich, aber nicht oberflächlich. „Pole Poppenspäler“ und ähnlich Unverfängliches lasen wir in der Volksschule, das wurde uns als Literatur vorgestellt. Selber war ich schon auf Erich Maria Remarque und Henry Miller gestoßen. Allerdings nicht in der Stadtbibliothek und auch nicht in den Pfarrbüchereien. Tucholsky aber machte mich bekannt mit den Autoren, die im Nachkriegsdeutschland schon vergessen zu sein schienen. Alfred Polgar darunter, Walter Mehring und Erich Kästner, der sich auf einmal für mich  als mehr als ein unterhaltsamer Kinderbuchautor herausstellte. Aber auch, natürlich, Heinrich Heine, Franz Kafka und Francois Villon. Auch solche Autoren waren in den Schulen der Fünfziger verpönt. Was Tucholsky „auf dem Nachttisch“ besprach, bot Anknüpfungen. Sie nutzte ich, vor mir wurde ein Kanon aufgestellt, der sich laufend vergrößerte. Tucholskys kabarettistische Werke wurden mir lieb, und manchmal entdeckte ich hinter dem anfangs angeschlagenen Ton erst später die politische Botschaft in den Gedichten und Chansons. Frankreich kannte ich, durch eine zweimonatige Reise per Daumen, schon vor Tucholsky. In meiner kleinbürgerlichen Umgebung fand ich aber niemanden, der meine Liebe zu den Franzosen und ihrer Lebensart teilte. Bei Tucholsky entdeckte ich dann das präzise  formuliert, was ich auch schon vage empfunden hatte. Seine Erlebnisse in Paris, wo er kurze Zeit als Korrespondent gelebt hatte, konnte ich mit eigenem Erleben vergleichen und bestätigen. Allerdings war zu meiner Zeit die Rue Mouffetard nicht mehr so sehr pittoresk. Auch die Schilderung der Cote d´ azur konnte ich goutieren, trotz oder gerade wegen seiner Bemerkung, dass sie „daliegt und aussieht.“ Über Bandol und die dort sommerfrischenden deutschen Intellektuellen  machte er sich lustig, noch nicht wissend, dass später im benachbarten Sanary sur Mer viele seiner Kollegen ein zeitweises Exil fanden. Nach all den Jahren mit Tucholsky weiß ich nicht, was ich mehr an ihm liebe. Gewiss ist es die Sprache, aber genauso seine ironische Distanz – auch zu sich selber. Seine Rolle als „homme de lettres“ war eng verbunden mit der als „homme de femmes“, wobei er nicht sicher war, ob die Frauen den Theaterkritiker Tucholsky nicht nur wegen der zweiten Freikarte liebten. Tragisch, und trotz Scheidung lebenslang, seine Liebe zu Mary Gerold, literarisch ergiebig die zu Lisa Matthias, seinem „Lottchen.“ Die Zwanziger, die „Goldenen“, stellen sich bei Tucholsky als Jahrzehnt der Reaktion dar. Als eine Zeit, die den Kaiser entlassen hatte, sich aber nach einer von oben verschriebenen Ordnung sehnte. Tucholsky machte das seinen Zeitgenossen klar, was ihn nicht bei allen beliebter machte. Er sezierte das Militär und die Justiz, die politische Kaste, die gesellschaftlichen Verkrustungen und die Kirche. Als Frankreichfreund und Demokrat, als Jude und als Intellektueller wurde er diffamiert. Wohl erkannt als einer, der seine Glossen und Kommentare „aus dem Ärmel schüttelt“, der Spaß macht. Aber er hat nicht nur „gebellt“, er wollte auch „beißen.“ Das hat er auch getan, aber die neuen Machthaber, die er zuvor verspottet hatte, verpassten ihm mehr als einen Maulkorb, sie verbrannten seine Bücher, bürgerten ihn aus und beraubten ihn seiner Einkommensmöglichkeiten. In Schweden, wo er lebte, wollte man ihn nicht einbürgern, seine Reisen in die Schweiz zu einer seiner Freundinnen, die ihn finanziell unterstützte, wurden beschwerlich. Erfolg zu haben aber keine Wirkung – das resümierte er verbittert. Der „kleine dicke Mann“, ein „Bonhomme“, hat die Katastrophe nicht aufhalten können, aber er hat den Weg hinein hell ausgeleuchtet und vor dem Betreten gewarnt. Dank ihm kann niemand, der zu seiner Zeit lebte sagen, man hätte ja nicht gewusst, was kommen würde. Es war zu sehen, für den, der sehen wollte. Tucholsky hat es auch mir sichtbar gemacht. Das hat für mich den Anfang eines Lebensweges bedeutet, auf dem er mir ein Begleiter war, der mich auch die Zeit nach den 68ern bis heute besser verstehen ließ. Er war einer, der was zu sagen hatte. Und der das auch konnte. Der es auf den Punkt bringen konnte, schnörkellos und ehrlich. Auf einem sprachlichen  Niveau, das ihn auch heute noch zum Vorbild macht für alle die schreiben. Und für mich, für einen lebenslangen Leser, zu einem, der immer wenn ich möchte, zu mir spricht. Am 21. Dezember 1935 nahm Kurt Tucholsky Tabletten, es waren wohl zu viele.

Hans Dieter Peschken