Trauer

Trauer

Als es passierte war er sechs Jahre alt, und er weinte nicht, als man es ihm sagte, kurz bevor er das Haus verlassen wollte, um zur Schule zu gehen. Während er Stufe um Stufe bedächtig die Holztreppe hinabstieg, trat unten die Mutter mit geröteten Augen und blassem Gesicht aus der Zimmertür. Er dachte sich schon, was sie sagen würde, denn er hatte genau gemerkt, was in den letzten Tagen vorgegangen war in dem kleinen Zimmer an der Straße. Noch bevor er am Treppenende angelangt war, hatte sie ihm gesagt, dass der Opa in der Nacht gestorben war. Er hätte nicht gewusst, warum er weinen sollte. Der Opa war schwer krank gewesen, dessen war er sich schon lange sicher und den Fortschritt der Krankheit hatte er miterlebt. Bei jedem Spaziergang, den er an Opas Hand getan hatte, hatte er gemerkt, wie der alte Mann sich veränderte. In jeder Wirtschaft, in der sie einkehrten, tat der Opa Verbotenes und jedes Mal wurde das Männerbündnis zwischen ihm und dem alten Mann erneuert und enger. Zu Hause hatte er niemals erzählt, dass der Opa doch wieder Zigarren geraucht, Bier getrunken und sogar Bratwurst gegessen hatte. Der Opa hatte gewusst, dass ihn das schneller ins Grab bringen würde, sagte es oft so ohne Bitterkeit, dass auch ihm dies als unabwendbares Schicksal erschien.
Mit dem Opa hatte er die ersten Eindrücke von der Welt außerhalb des Hauses erlebt, war mit ihm, dem einzigen Mann in seiner Umgebung, in die Stadt gegangen. Durch die Straßen, zu Bekannten, in die Wirtschaften. Mit ihm hatte er gelernt, wie man sich bei fremden Leuten benimmt, wie man an fremden Tischen sitzt und mit fremden Menschen redet.
Gleichzeitig mit den Fortschritten, die er an sich selber erlebte, sah er, wie der Opa zerfiel. Immer schwerer war ihm das Ausgehen gefallen, immer kürzer wurden die Wege. Er fühlte, dass das, was für ihn ein Erlebnis war, dem Opa ein Stück des Lebens kostete. Aber der Opa ließ sich nicht so einfach hineinreden in sein Tun, ging auch unter Schmerzen. Konnte nichts mehr essen, nur noch glücklich zusehen, wie er, der Enkel, eine heiße Suppe am Wirtshaustisch löffelte, ohne etwas zu verschütten.
Bis der Opa sich vor einigen Wochen hingelegt hatte, nicht mehr aufstehen konnte. Er besuchte ihn jeden Tag im Krankenzimmer, das ganz selbstverständlich im Haus eingerichtet wurde. Er sah den Opa dahinsiechen und begriff, dass alle Bemühungen dem Opa nicht mehr die Gesundheit zurückbringen würden.
Er war nur neugierig, wie der Opa aussehen würde, wenn er tot wäre. Warum sollte er jetzt weinen?
Der Besuch am Nachmittag nach der Schule im Totenzimmer wurde ihm erlaubt. Er näherte sich dem Toten ohne Scheu, sah sich genau an, wie ein Toter aussieht. Er fand den Opa wenig verändert, unbeweglich und mit geschlossenen Augen hatte er ihn früher schon liegen sehen. Dass der alte Mann die weißen Finger gefaltet hielt, fand er ungewöhnlich, denn gerade so hatte er die Hände nie gesehen. Aber, dass man dem Toten in gewissen Abständen mit einem Tuch etwas Blut von den Lippen tupfen musste, wunderte ihn nicht, oft genug hatte er beobachtet, wie der Opa das selber getan hatte. Er fand das Verhalten seiner weiblichen Verwandten peinlich, die nur stumm, betend oder weinend im Totenzimmer herumstanden. Er aber hatte kein schlechtes Gewissen während der zwei Tage, die der tote Opa in dem verdunkelten Zimmer lag, weil er keine traurigen Gedanken hatte und nicht weinen konnte.
Am frühen Abend des zweiten Tages, nachdem man ihn von dem Tod des Opas unterrichtet hatte, kamen zwei Männer mit einem Sarg. Er sah sich genau an, wie sie ihn hineinlegten, den Sarg verschlossen und ihn in ihr Auto verluden. Er hatte den Wagen abfahren sehen, war dann schnell ins Haus getreten und hatte die Straßentüre fest geschlossen. Dann war er durch das leere Zimmer und die Küche hinaus in den Hof gelaufen. Hatte sich mit dem Gesicht nach unten auf die alte dicke Matratze geworfen, auf der er vorhin noch gespielt hatte, und die noch warm vom Schein der tiefstehenden Sonne war. Er hatte lange hemmungslos geweint, schluchzte immer noch, als man ihn schließlich hinauf ins Bett trug und konnte am nächsten Tag nicht zur Schule gehen.

Hans Dieter Peschken